Was ist „Lebenskunst“?

Category : Allgemein

Ein Antwortversuch aus dichterischer und freimaurerischer Sicht


Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,

Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse
(1877-1962)


Hesses Gedicht, das er nach überstandener längerer Krankheit im Jahr 1941 verfasst hat und das ursprünglich den Titel „Transzendieren!“ trug, drückt wie ich finde auf sehr schöne, lyrische Weise das aus, was wir Menschen im Laufe unseres Lebens – und insbesondere wir als Brüder Freimaurer im Laufe unseres Logenlebens – erfahren.

Die Tatsache unserer Sterblichkeit – die in jedem Lebensalter gegeben ist – machen wir uns nur ungern bewusst und können sie noch schwerer akzeptieren.

In früheren Jahrhunderten – als man vielen Krankheiten praktisch machtlos gegenüber stand, die heute gut behandelbar sind – war den Menschen die Tatsache ihrer Sterblichkeit zwangsläufig viel stärker bewusst als uns in unserer heutigen westlichen Welt. Es entwickelte sich eine „Ars moriendi“ – eine „Kunst des Sterbens“ oder eine „Kunst zu sterben“. Die Ars moriendi war zugleich auch eine „Ars vivendi“, also eine Lebenskunst.

Wir verstehen heute unter den Worten „Lebenskunst“ und „Lebenskünstler“ im landläufigen Sinne meistens etwas anderes. Doch was kann „Lebenskunst“ für uns als Brüder Freimaurer bedeuten?

Wenn wir unser Leben vom Ende her betrachten, bekommt manches, was in unserem Leben eine Rolle spielt, eine andere Gewichtung. Hermann Hesse macht uns deutlich, dass das Ende des Lebens nur ein vorläufiges, vielmehr ein Durchgang ist. Es gilt, unseren „Lebensruf“ zu finden, wie Hesse es in seinem Gedicht „Stufen“ ausdrückt. Der Lebensruf führt uns zu dem, was unser Leben mit Sinn erfüllt, was auch über die Grenze unseres irdischen Lebens hinausreicht und Bestand hat. Unser Lebensruf kann unsere – menschlich nachvollziehbare – Furcht vor dem Ende der eigenen physischen Existenz wenn schon nicht ganz besiegen, so ihr doch zumindest nicht mehr Macht über unsere Seele zu geben, als ihr zusteht. Wir können die Furcht vor dem eigenen Tod weder besiegen noch verdrängen, aber wir können ihr die Macht über unser Leben nehmen. So brauchen wir weder in hemmungslosen Lebensgenuss noch in verzweifelten Aktionismus zu verfallen, da wir nicht wissen können, wie viel Lebenszeit uns noch bleibt.

Wenn wir unseren Lebensruf vernommen haben, wenn wir wissen, wofür und für wen wir leben, dann kann uns dieses Wissen helfen, die Aussicht auf das „offene Ende“ unseres Lebens leichter zu ertragen. Von sehr hoher Lebenskunst zeugt es dann, „heiter Raum um Raum“ zu durchschreiten, wie Hesse es ausdrückt. Doch auch, wenn man nicht diese hohe Lebenskunst erreichen sollte, kann es uns helfen, unserem Lebensruf nachzuspüren, uns zu fragen, was uns am Leben hält und ihm Sinn verleiht; einen Sinn, der auch unser irdisches Ende überdauert. Das kann die Zuwendung zu anderen Menschen sein, die geistige und künstlerische Tätigkeit, die Planung und Realisierung zukunftsweisender Projekte für Mensch und Umwelt und vieles andere mehr.

Ganz gleich, ob sich dies aufsehenerregend oder ganz unauffällig vollzieht – entscheidend ist, dass es unser ganz persönlicher Lebensruf ist, den wir vernommen haben und dem wir folgen. Jeder von uns hat seinen ganz persönlichen Lebensruf, doch wir dürfen gemeinsam als Brüder versuchen, ihm in unserem Leben zu folgen und uns dabei helfend und unterstützend zur Seite stehen.